
Ein Zufall wollte es, dass der Copilot von Pierre-Alain Desmeules, letzterer wie ich Mitglied der VSV (Verein der Segelflug-Veteranen), absagte und ich für gut drei Wochen im letzten November einspringen konnte. Als wir in Argentinien ankamen, war der Container mit der Stemme bereits auf dem Flugfeld Nahuel Huapi bei Bariloche.
Google Maps

Dank Pierre-Alains sorgfältiger Planung war die Maschine in wenigen Stunden montiert und durchgecheckt. Wir waren das dritte Flugzeug neben einer Nimbus-4 von Jean-Marie Clement, Frankreich, und einer Elektro-Antares von John Williams aus Schottland, beides bereits sehr erfahrene Wellenflugpiloten, wie wir bald feststellten. Drei Flugzeuge, doch winzige Mücken in den endlosen Himmeln, Gebirgen und Pampas Patagoniens.

Der See von Nuahuel Huapi bei Bariloche. Im Hintergrund erkennt man die „Föhnmauer" mit einer vorhängenden Regenzunge.
Auf 41 Grad südlich an einem vielarmigen See vor einer Kulisse teilweise verschneiter Berge gelegen, spielt Bariloche für Argentinien touristisch etwa die Rolle von Luzern, hat allerdings einen internationalen Flughafen, der nur etwa 6 Kilometer von unserem Flugfeld entfernt lag und dessen Kontrollturm auch für uns zuständig war. Vom Gebirge zur Pampa wandelt sich die Vegetation über kaum 10 Kilometer von üppig bewaldeten Tälern zu arider, steppenartiger Pampa. In den Tälern glaubt man sich eher in Kanada, doch die karge Natur erlaubt praktisch nur wenigen Hasen, Füchsen und Kondoren zu überleben. Im Stadtmuseum konnten wir feststellen, dass dies auch auf die Ureinwohner zutraf, die so sehr um ihr Überleben kämpfen mussten, dass sie praktisch keine zivilisatorischen Verfeinerungen entwickeln konnten.
Die Gebirge jener Gegend sind weniger hoch als die Alpen. Die hohen Berge, bekannt durch den Aconcagua, liegen 1000 Kilometer weiter nördlich. Die für den Sommer typischen Westwinde vom Pazifik erzeugen eine föhnähnliche Situation mit sichtbarer Föhnmauer, die jedoch ab und zu vordringt, sei es als Regen- oder als Wolkenschlange, und den Flugweg endlang der Anden unvorhergesehen versperren kann. Wir sollten selber bald durch eine solche Front zu einer ungeplanten Landung mit Uebernachtung in Chapelco gezwungen werden.

Unsere Stemme auf dem Flughafen Chapelco am Morgen nach einer wetterbedingten Landung
Von Westwinden überströmt, bietet die nordsüdlich verlaufende Andenkette im Prinzip Wellenflugbedingungen zwischen dem 30. und dem 50. südlichen Breitengrad, also über eine Distanz von über 2000 Kilometern, doch ist die Wettersituation nur selten durchgehend günstig, abgesehen von den erwähnten Frontmauern. Auch bei günstigen Bedingungen gibt es zudem Abschnitte, die im Gleitflug bewältigt werden müssen, wo vorher Höhen bis zu 8000m zu erklimmen sind, um die nötige Reichweite und Sicherheit zu haben.
Durch die Zunahme des Luftverkehrs werden Bewilligungen über FL195 (6000 müM) heute jedoch seltener erteilt, ein Grund mehr, weshalb das Wellenfliegen in Patagonien häufiger an Grenzen stösst. In Argentinien fliegt man zwar immer in kontrollierten Lufträumen, die bis FL195 von lokalen Kontrolltürmen der privaten oder militärischen Flugplätze überwacht werden, jedoch verfügen diese mangels Geld normalerweise über keine Radarüberwachung. Ein Transponder nützt dann nichts. Statt dessen wird man vom Turm etwa alle 10 Minuten um die Position gebeten, ein Ritual, für das man am besten ein GPS-Gerät permanent einstellt.
Ein ebenso grosses Hindernis dürfte in der Zolladministration von Argentinien liegen. Die lokal vorhandenen Segelflugzeuge sind technisch und altersmässig nicht für Wellenflüge geeignet, während der Import modernerer Segelflugzeuge durch absurd hohe Zölle verhindert wird. Es bleibt somit nur der temporäre Import für etwa 80 Tage. Ein Hin- und Rücktransport aus Europa kostet damit im Container aber etwa 15'000 EUR, und dies ohne zusätzliche Schikanen an der Grenze, die hohe Zusatzausgaben zur «Beschleunigung» der Beamten verursachen können. Selbst wenn ein Container mehrere Segelflugzeuge aufnehmen kann, sind die Kosten pro Flugzeug somit erheblich. Wellenfliegen in Argentinien wird also in absehbarer Zeit nicht zum Massensport werden.

Eine sichtbare Wellenstrasse: Der Wind kommt von den Anden links und die erste Welle folgt dem Beginn der Pampa. Obwohl wir hier mit Maximalgeschwindigkeit flogen, mussten wir stark aufkreuzen.
Doch nun zurück zumWellenfliegen: Die Wellen selber sind idealerweise sichtbar. Dann kann man der Wolkenfront entlang fliegen, die an der aufsteigenden Seite einer Welle entsteht. Die optimale Aufwindachse kann aber jedoch bereits in der Mitte des wolkenfreien Kanals liegen und muss deshalb auch bei klaren Sichtverhältnissen kontinuierlich gesucht und eingependelt werden. Selbst dann verhindert die grosse Höhe eine genügend präzise Navigation aufgrund der Geländesicht, d.h. man ist sehr auf gut funktionierende GPS-Geräte angewiesen.
Wellenverhältnisse treten aber auch häufig bei Bewölkungen von über 90 Prozent auf. Die Wellentäler sind dann bestenfalls als abgetiefte Dellen in der Wolkendecke erkennbar. Unter diesen Bedingungen ist die Verwendung von GPS-Hilfen erst recht eine Notwendigkeit, sowohl zur Navigation wie zum Auffinden und Zentrieren der Wellenachsen. Fliegen unter diesen Bedingungen ist dann eine eher zerebrale Angelegenheit. Je nach Höhe muss man dabei nach Löchern in der Wolkendecke Ausschau halten, um im Notfall absteigen zu können.

Wellenflug bei 95% Bedeckung. Das Wellental ist nur noch für Erfahrene als leichte Abtiefune in der Wolkendecke sichtbar.
Bei der Verwendung von GPS-Hilfen gibt es die alte Schule, die mit dem Nettovariometer und der digitalen Trackangabe arbeitet. Glaubt der Pilot, optimal in eine Welle eingestiegen zu sein, wendet er das Flugzeug so schnell wie möglich auf einen Track 90 Grad zur Windrichtung und versucht dann, sich auf die optimale Achse einzupendeln.
Ich hatte insofern Glück, dass Pierre-Alain etwas komfortabler ausgerüstet war und seine GPS-Anwendung SeeYou so programmiert hatte, dass die Flugspur auf dem GPS-Bildschirm vom Aufwind abhängige Bläschen hinterliess und der Track des Flugzeuges als blaue Linie dem Flugzeug vorauseilte. So konnten wir die Wellen wenigstens auf dem Bildschirm "sehen». Interessanterweise stellten wir dabei fest, dass es auch bananenförmige Wellen gibt. Diese scheinen von ebenso gekrümmten Kreten ausgelöst zu werden.

SeeYou GPS Flugspur-Navigation am Bildschirm bei Aufstieg in einer Welle (hier ein 2km-Ausschnitt).
Die Bildschirmaufzeichnung hat aber auch noch den Vorteil,dass man Wellen etwa auf dem Rückflug leicht wieder finden kann. Selbst wenn der Wind inzwischen zugenommen hatte, konnten wir eine inzwischen durch zunehmenden Wind verschobene Welle parallel zur früheren ausfliegen. Fliegerisch war für mich ein derartiges Fliegen nach GPS neu und erinnerte an das Pilotieren ferngesteuerter Modellflugzeuge oder an einen Flugsimulator. Die starke Absorption durch den Bildschirm geht dabei auf Kosten der uftraumüberwachung, ein Grund mehr, als Zweierbesatzung zu fliegen. Da wir nur alle paar Tage entfernt einem anderen Flugzeug begegneten, war dies jedoch kein gravierendes Problem.

Der Wechsel zwischen den Wellen will geübt sein, auch wenn man die Wellen wie im Bild noch sieht.
Auch in Patagonien sind einzelne Wellen von beschränkter Länge. Ist man auf ausreichender Höhe am Ende einer Welle angelangt, gilt es, die nächste Welle rasch zu erkennen und zu erreichen. Entscheidet man sich für die nächste Welle windabwärts, muss der Uebergang möglichst rasch erfolgen. Bei Windgeschwindigkeiten über 100km/h erreicht man dabei beim Andrücken auf 6000 Metern schnell einmal Geschwindigkeiten von weit über 300 km/h über Grund. Zeigt nun das Nettovariometer die neue Welle an, muss man sehr rasch reagieren, d.h. sofort mit einer Steilkurve in die neue Wellenachse eindrehen, falls man diese denn erwischt. Ein Sprung zur nächsten Welle kostet schnell 1000 Höhenmeter und entsprechend mehr, wenn man dann eine Welle verpasst. Ich stellte fest, dass dieser Wellenwechsel wirklich rasche Reaktionen verlangte und geübt sein wollte, um trotz der schnellen Abläufe einen kühlen Kopf zu behalten.
Entscheidet man sich für eine windaufwärts gerichtete Welle, ist grosse Vorsicht geboten, denn man muss nun die Leezone mit Gegenwind durchkreuzen und kann dann auch erleben, dass die Wolkendecke schneller als erwartet näher kommt und man besser rechtzeitig umkehrt.
Die meisten Wellentheorien bestätigten sich in der Praxis. Es scheint jedoch verschiedene Wellentypen zu geben. Am einleuchtendsten waren natürlich die Wellen, die von einer windaufwärts gelegenen Krete ausgelöst werden. Die beste Steigzone schien dabei etwa 270-300 Sekunden Windgeschwindigkeit windabwärts zu liegen. Der Einfluss des Windgradienten, d.h. die Zunahme der Windgeschwindigkeit mit der Höhe, bestätigte sich klar und auf allen Höhen. Bei guten Verhältnissen stellten wir eine Windzunahme von etwa 10 Knoten pro 1000 Höhenmeter fest. Selbst auf Einstiegshöhen ab ca 1500m Grund waren bei guten Gradienten Wellen zu finden, auch noch bei Windgeschwindigkeiten von lediglich 15 Knoten, allerdings immer vorausgesetzt, dass keine Windscherung vorlag, also die Windrichtung mit der Höhe konstant blieb. Andernfalls war dies meist schon an den dabei durch die Scherung verursachten Turbulenzen spürbar. Um ungünstige Verhältnisse nicht erst in der Luft festzustellen, informierten wir uns täglich anhand der NOAA Prognosen auf Internet über Winde und die Wolkenbedeckung, neben jenen des Servicio Meteorologico National von Argentinien, wobei es auch noch verschiedene andere Quellen gab. Die Daten von NOAA erwiesen sich aber als recht zuverlässig.
Kreten scheinen nicht die einzigen Auslöser von Wellen zu sein. So stellten wir auch Wellen in freien Durchbruchstälern zwischen zwei Kreten fest. Ob diese Wellen durch Interferenzen, Konfluenz, oder einen sogenannten Wellensprung entstanden, wurde uns aber nicht klar. Die Meinungen der Experten gingen da auseinander. Hauptsache, diese zusätzlichen Wellen waren überhaupt da.

Der Vulkan Lanin links als Auslöser eines Wellenpilzes rechts.
Als Kuriosum fanden wir auch eine pilzförmige Welle hinter dem Vulkan Lanin, statt einer Krete lediglich einem Kegel im Gelände, bei dem wir windabwärts die besagten Pilzformen beobachteten, auch diese im üblichen Wellenabstand vom Hindernis. Kreten, die bei weitem nicht rechtwinklig zur Windrichtung standen, konnten übrigens immer noch Auslöser sein, vorausgesetzt, dass sie nicht zu hoch waren und dadurch den Wind zu stark ablenkten.
Den wohl seltsamsten Aufwind wir einmal in der Gegend von Zapala, wo der Wind gegen Norden am Ende der letzten Wille völlig zusammenbrach und schliesslich nur noch knapp 5 Knoten betrug. Nachdem wir längere Zeit in der Hoffnung auf Wind und eine neue Welle weitergeflogen waren, fanden wir auf 5000m Höhe plötzlich einen starken Aufwind, der aber gleich wieder nachliess, als hätten wir einen starken Thermikschlauch durchflogen. Als wir nach mehreren Kilometern weiterer Suche nichts fanden, kehrten wir dank GPS zu jener Stelle zurück, wo wir sogleich wie in einem Schlauch mit 5-6 m/sec auf 7000m hochstiegen. Die Wolkenbasis, d.h. die thermische Konvektionszone, war dabei weit unter uns, auf etwa 2000 Metern. Wir konnten uns nicht erklären, wie dieser sehr lokale starke Aufwind so weit oben mitten im blauen Himmel, hatte entstehen können. Erfahrene Piloten, die wir abends fragten, sprachen lediglich von Konfluenz und Mikrozyklonen, aber es schien auch diesmal, dass nicht nur wir nicht immer alles verstanden.

Eine Traumraumsituation beim Fliegen entlang des linken Wolkenrandes, wobei man vermeiden muss, vor Begeisterung in den Wellenturm hineingesogen zu werden.
Ich fragte mich immer mehr, wie sich denn die erfahrenen Piloten unter all diesen Umständen optimale Strategien erarbeiten. So erfuhr ich zum Beispiel, dass man sich an Wellenpunkten orientierte, die man in früheren Flügen auf der Aufstiegsachse einer Welle auf dem GPS markiert hatte. Enger bekannte Piloten tauschen sich diese Wellenpunkte auch untereinander aus. Die Angaben betreffen aber nur die Position der Welle, jedoch nicht die genauen Windverhältnisse (Windstärke, -Richtung, und -Gradient), unter denen diese angetroffen worden waren. Das erinnert an die Thermik-Hotspots, die man z.B. in Deutschland während Jahren aufgezeichnet hat, jedoch auch dort ohne die präziseren Begleitumstände. Ich stellte fest, dass die Wellenpunkte mangels besserer Indikatoren zwar bevorzugt angeflogen wurden. Die Erfolgsrate, die ich während meiner Zeit in Patagonien feststellte, schien aber bestenfalls um die 50 Prozent zu liegen.

Begegnung mit einem Condor, dem König der Anden.
Es scheint also offensichtlich noch ein Bedarf an präziseren Orientierungshilfen im Wellenwirrwar zu bestehen. Trotzdem, oder gerade deswegen, war es erstaunlich, mit welcher Sicherheit sich wellenerfahrene Piloten in diesem scheinbar schwierigen Umfeld zurechtfanden. So hat mich etwa unser Kollege John Willams erstaunt, der allein aufgrund seiner zwar grossen Wellenerfahrung in Schottland innerhalb von zwei Wochen nach Erstankunft in Patagonien während meines Aufeinthaltes einen Geschwindigkeitsrekord über 1500km egalisierte. Dass ihm dieser Rekord in wenigen Tagen von Klaus Ohlmann wieder abgenommen wurde, tut dabei nichts zur Sache. Wichtig scheint vor allem die Tatsache, dass es ein zumindest geografisch übertragbares Erfahrungswissen geben, das sich in der Praxis bewährt, auch wenn es noch nicht als systematische Methode beschrieben ist.
Das sind nur einige der Anregungen , die ich von meinen rund 60 Wellenflugstunden in Patagonien mitbekommen habe. Die Virtuosität der Piloten mit Tausenden von Flugstunden Erfahrung in dieser Umgebung faszinierten mich. Der Mensch ist offensichtlich in der Lage, Phänomene und Zusammenhänge allein aufgrund grosser Erfahrung zu beherrschen, selbst wenn er die wissenschaftlichen Prozesse nur grob begreift oder beschreiben kann. Ist die Wissenschaft deshalb nutzlos oder einfach im Rückstand? Persönlich glaube ich, dass da noch ein Aufholbedarf besteht.

Das Valle Encantado, nun mit einem Stausee verzaubert.
Wellenflüge in der Einsamkeit Patagoniens sind eine intensive, fast meditative Erfahrung. Man erlebt die Welt riesengross, kaum berührt, und lernt wieder zu staunen. Ich fühlte mich privilegiert, so ganz anders als die Masse erleben zu dürfen und mit Menschen zu sein, mit denen ich die Erfahrungen teilen konnte. Allen, die mir dies ermöglicht haben, sei von ganzem Herzen gedankt, allen voran meinem Kollegen Pierre Alain.
Dass neben dem Wellenfliegen auch das Land nicht zu kurz kam, sei hier nur am Rande erwähnt, sei es bei einem urchigen Gaucho-Festival mit Hunderten von Pferden und einem Rodeo, Wanderungen in urtümlichen Wäldern und einsamen Tälern, den unzähligen tiefblauen Seen, herrlichen Weinen und vor allem den vielen gastfreundlichen Menschen.
Beda Sigrist
